Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Werk „Nachtcafè“ von Gottfried Benn stammt aus dem Jahre 1912. Der äußere Aufbau gliedert sich in acht Strophen, mit jeweils eine bis sechs Versen; eine feste Regel für die Länge der Strophen ist nicht erkennbar. Inhaltlich schildert der Ich-Sprecher das rege Gesellschaftstreiben in einem städtischen Nachtcafè. In der ersten Strophe beginnt die Szenerie mit der Robert Schumanns Vertonung von Chamissos „Frauen – Liebe und Leben“: Ein Chello „trinkt“ (V. 2), eine Flöte „rülpst“ drei Takte (V. 3) und die Trommel „liest“ den Kriminalroman zu Ende (V. 4). Alle diese drei Verse haben den gleichen grammatikalischen Aufbau, man spricht hier also von einem „Parallelismus“. Ferner noch werden den Instrumenten menschliche Charakterzüge zuteil, es könnte sich also um eine Personifikation1 der Instrumente handeln. Eine andere Interpretationsmöglichkeit wäre, dass die Instrumente stellvertretend für Menschen stehen, die in ihrem Erscheinungsbild für Cello (groß und bauchig), Flöte (klein und dünn) und Trommel (laut und aufdringlich) stehen.
In den folgenden vier Strophen beschreibt der Ich-Sprecher vier Paare. Was auch schon im ersten Abschnitt aufgefallen sein könnte ist, dass Personen immer nur auf prägnante Äußerlichkeiten reduziert werden. Das lyrische Ich fixiert sich in seinen Beschreibungen auf die hässlichen Merkmale. Besonders direkt wird der Sprecher jedoch erst ab der zweiten Strophe: „Grüne Zähne, Pickel im Gesicht winkt einer Lidrandentzündung“. Für den Leser werden diese Beobachtungen mit einer zynischen, fast schockierenden Nüchternheit geschildert. Diese Art der Beschreibungen, bei der Menschen durch ihre Erscheinungsmerkmale ersetzt werden, nennen sich „Synekdochen2“ (auch als „pars pro toto“ bekannt). Der Autor Gottfried Benn chiffriert sein Gedicht dadurch und verkompliziert den Zugang zum Textverständnis, dazu kommen Ellipsen3 (Auslassung) wie in Vers 10 und 12, sowie Enjambements4 wie in Vers 5 und 7; jedoch kann Benn dadurch erfolgreich seine beabsichtigte Wirkung potenzieren5: Die Hässlichkeit der Menschen herausstellen. Die eigentliche Handlung der vier Pärchen beschränkt sich auf die Triebebene; der Ich-Sprecher beobachtet, wie sich Männer und Frauen gegenseitig gefügig machen (V. 11f: „Junger Kropf ist Sattelnase gut. Er bezahlt für sie drei Bier“, V. 13f: „Bartflechte kauft Nelken, Doppelkinn zu erweichen“). Der Mensch wird hier nicht nur auf sein hässliches Äußeres fokussiert, sondern auch auf seinen Sexualtrieb. Das Wort „Liebe“ stellt damit in diesem Gedicht nur eine Persiflage6 für niedere Instinkte dar, während die Personen in der Beschreibung des Sprechers keine Individualität besitzen und stereotyp7 sind („Ich-Dissoziation8“).
In der sechsten Strophe wird die 35. Sonate von Chopin gespielt. Dieses Stück scheint der heruntergekommenen Gesellschaft nicht angemessen zu sein: Zwei Augen „brüllen“ beim Anspielen des Stückes auf, vermutlich die des Ich-Sprechers, der die Chopin-Sonate von der triebgesteuerten Gesellschaft in dem Nachtcafè „vergewaltigt“ sieht (V. 16: „Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal, damit das Pack drauf rumlatscht“). Nicht nur, dass Benn hier metaphorisch wird, sondern auch durch die Wortwahl („Das Pack“) den Ich-Sprecher von den restlichen Gästen abgrenzt.
Im sechsten Abschnitt tritt nun eine für den Ich-Sprecher charismatische Person in den Raum. Eine schöne Frau, von dessen Parfüm der Sprecher sich benebelt fühlt und die er für keusch und geheimnisvoll hält. Der Sprecher selbst scheint in diesem Moment Opfer seiner Libido9 zu werden (V. 24f).
In der letzten Strophe, der einen separaten einzelnen Vers darstellt, löst sich die charismatisch wirkende Frau in eine ordinäre Prostituierte auf. Dieser Schluss lässt sich ziehen, weil ein „Fettleibiger“ hinter der Frau „hertrippelt“. Die schöne Frau ist käuflich und lässt sich nur deshalb auf diese ungleiche „Beziehung“ ein.
„Nachtcafè“ ist ein sehr beliebtes Gedicht expressionistischer Literaturepoche im Deutschunterricht. Der Grund dafür ist, dass in „Nachtcafè“ sehr viele Kritikpunkte an der Gesellschaft geäußert werden, die in expressionistischen Werken typisch sind. Auf sehr unverblümte Weise zeigt Benn auf das Hässliche, die Krankheit und die Abscheu vor dem Menschen. Die Gesellschaft wird als degeneriert10, verfallen und triebgesteuert dargestellt. Personen werden als individualitätslos beschrieben, die sogenannte „Ich-Dissoziation“. All die Intentionen von Gottfried Benns „Nachtcafè“ entsprechen dem Gesellschaftsbild der Expressionisten.
Von dem Ich-Sprecher erfährt man in diesem Gedicht nahezu nichts. Nur durch seine Beschreibungen lässt sich erschließen, dass er mit den Genüssen der Gesellschaft nichts anfangen kann und ein Fremder an diesem Ort zu sein scheint; der Sprecher lebt in einer Art „Gegenwelt“. Des Weiteren könnte man den Sprecher für arrogant halten, da er den Rest der Festgesellschaft als „Pack“ bezeichnet. Zudem scheint er künstlerisch bewandert zu sein, da er sich echauffiert11 darüber zeigt, dass für dieses „Pack“ Chopin gespielt wird.