Gedichtinterpretation: Emanuel Geibel – Kriegslied (Spätromantik); Vergleich zum Expressionismus

Emanuel Geibel [1] 1815-1884

1 Empor mein Volk! Das Schwert zur Hand!
2 Und brich hervor in Haufen!
3 Vom heil’gen Zorn ums Vaterland
4 Mit Feuer laß dich taufen!
5 Der Erbfeind beut dir Schmach und Spott,
6 Das Maß ist voll, zur Schlacht mit Gott!
7 Vorwärts!

8 Dein Haus in Frieden auszubau’n
9 Stand all dein Sinn und Wollen,
10 Da bricht den Hader er vom Zaun
11 Vo Gift und Neid geschwollen.
12 Komm über ihn und seine Brut
13 Das frevelhaft vergossne Blut!
14 Vorwärts!

15 Wir träumen nicht von raschem Sieg,
16 Von leichten Ruhmeszügen,
17 Ein Weltgericht ist dieser Krieg
18 Und stark der Geist der Lügen.
19 Doch der einst unsrer Väter Burg,
20 Getrost, er führt auch uns hindurch!
21 Vorwärts!

22 Schon läßt er klar bei Tag und Nacht
23 Uns seine Zeichen schauen,
24 Die Flammen hat er angefacht
25 In allen deutschen Gauen.
26 Von Stamm zu Stamme lodertu2018s fort:
27 Kein Mainstrom mehr, kein Süd und Nord!
28 Vorwärts!

29 Voran denn, kühner Preußenaar,
30 Voran durch Schlacht und Grausen!
31 Wie Sturmwind schwellt dein Flügelpaar
32 Vom Himmel her ein Brausen,
33 Das ist des alten Blüchers Geist,
34 Der dir die rechte Straße weist.
35 Vorwärts!

36 Flieg, Adler, flieg! Wir stürmen nach,
37 Ein einig Volk in Waffen.
38 Wir stürmen nach, ob tausendfach
39 Des Todes Pforten klaffen.
40 Und fallen wir: flieg Adler, flieg!
41 Aus unsrem Blute wächst der Sieg.
42 Vorwärts!


Analyse und Interpretation:

Das Gedicht „Kriegslied“ (1870) von Emanuel Geibel ist ein Appell an die deutsche Bevölkerung, in den Krieg gegen den Frankreich zu ziehen. Der historische Hintergrund dieses Gedichte ist der sogenannte „Siebziger Krieg“ oder deutsch-französischer Krieg [2] im Jahre 1870/71. Emanuel Geibel „mischt“ sich mit seinem 6-strophigen Gedicht, oder viel mehr seinem Lied, in diesen Krieg als Wortführer ein. Er versucht die deutsche Bevölkerung zum Kampf aufzurufen (Z.1: „Empor mein Volk! Das Schwert zur Hand!“, Z.29: „Voran denn, kühner Preußenaar“), schürt Hass gegen Frankreich und instrumentalisiert dazu die Religion (Z.6: „Das Maß ist voll, zur Schlacht mit Gott!“).

Bereits in der ersten Strophe (Z.1-7) spricht der Sprecher dieses Liedes vom sogenannten „Erbfeind“ (Z.5). Der Hintergrund dazu ist, dass das deutsche und französische Volk aus der Spaltung des einstmals vereinten Frankreiches (auch „Fränkischen Reiches“) entstand. Diese Verwandtschaft veranlasst Geibel dazu, vom „Erbfeind“ Frankreich zu sprechen. Gleichzeitig greift er damit auf einen sehr tief verwurzelten Konflikt in der deutsch-französischen Geschichte zurück: Die Zerspaltung des Frankenreiches war die Folge eines kriegerischen Erbfolgestreit, den Kaiser Ludwig I. mit seinen drei Söhnen führte. Der Vater wurde entmachtet und nach seinem Tod veranlassten die sich strittigen Söhne die Zerteilung des Frankenreiches in die von ihnen in Anspruch genommenen Gebiete (Jahr: 843). Sie stellten darauf die jeweiligen Kaiser und Könige ihrer beanspruchten Gebiete. Geibel rührt an dieser Stelle ganz bewusst an einen sehr sensiblen Punkt des seit jeher angespannten deutsch-französischen Verhältnisses. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weshalb Geibel die Geschichte bemüht, um das deutsche Volk erfolgreich in den Krieg zu treiben: Der Anlass für den 1.Weltkrieg war ein recht trivialer Konflikt; es wurden eine Reihe persönlicher Konflikte und Demütigungen zwischen den jeweiligen Staatsführern ausgetauscht, was Napoleon III. [3] und Otto von Bismarck [4] schließlich unter zusätzlichen gesellschaftlichen Erwartungen und Ehrerfüllung in den Krieg trieb (siehe dazu Emser Depesche [5]). Das gemeine Volk hingegen hatte wenig Anlass dazu, unter pragmantischen Gesichtspunkten einen Krieg mit Frankreich zu erstreben, so dass Geibel offenbar zusätzliche Beweggründe aus der deutsch-französischen Vergangenheit zu Tage fördern muss.

Des weiteren stellt der Sprecher Frankreich ganz gezielt als Provokateur und streitsüchtig dar. Den Franzosen wird vorgeworfen, der Auslöser für den Konflikt zu sein, während die Deutschen lediglich die Reaktion, die Defensive liefern würden. Stets wird von dem friedvollen Deutschen gesprochen (Z.8f: „Dein Haus in Frieden auszubauu2019n Stand all dein Sinn und Wollen“), während die Franzosen eine gewisse Hinterlist und Intriganz unterstellt wird (Z.10: „Da bricht den Hader er vom Zaun“). Folglich sind die Franzosen auch gottlos (Z.12f: „Komm über ihn und seine Brut Das frevelhaft vergossne Blut!“) und werden vom Sprecher als „Brut“ beschimpft, während den Deutschen der Rückhalt Gottes prophezeit wird (Z.6: „zur Schlacht mit Gott!“). Krieg wird in diesem Lied vordergründig wieder mal im Namen der Religion und von Gott geführt. Anzufügen wäre, dass Otto von Bismarck Napoleon so geschickt dazu verleiten konnte, den Krieg mit Deutschland auszurufen, dass Frankreich im Lichte der Weltöffentlichkeit tatsächlich als Aggressor1 gesehen wurde. Dies deckt sich mit den oberflächlichen Darstellungen der Franzosen von Emanuel Geibel in seinem Lied. Der wahre Hintergrund ist allerdings, dass Otto von Bismarck Napoleon ganz gezielt provoziert hat und sein Kalkül letztendlich aufgegangen ist; Otto von Bismarck hat Napoleon damit bewusst in den Krieg getrieben.

In der dritten Strophe (Z.15-21) schwört Geibel die Bevölkerung auf einen beschwerlichen und mühseligen Sieg ein, dennoch wird hier selbstbewusst und optimistisch der Sieg als Endziel in Aussicht gestellt. Der Sprecher versucht ein „Wir“-Gefühl zu schaffen, er schließt sich mit dem „wir“ sogar selber als Teil des Volkes dar und schafft damit „Bürgernähe“. Diese Art von Einschwörung und Schaffung eines Solidaritätsgefühls, erinnert sehr an die spätere Rede des englischen Premierministers Winston Churchill [6] im zweiten Weltkrieg. Winston Churchill bereitete später die Engländer durch seine bekannt gewordenene, sogenannte „Blut, Schweiß und Tränen-Rede“ (blood, tears, toil and sweat) auf einen harten Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland vor.
Zudem bemüht Geibel den „Geist der Urväter“ (Z.19f), ähnlich wie er die Bevölkerung bereits an den archaischen2 Erbkonflikt in der ersten Strophe erinnerte.

Die vierte Strophe versucht dem Hörer dieses Liedes die von den Franzosen ausgehende Kriegsgefahr als unmittelbar und nahbar darzustellen (Z.22f: „Uns seine Zeichen schauen, Die Flammen hat er angefacht“). Der Zuhörer wird in Angst und Panik versetzt, wobei Geibel diesen Druck nutzt, um das Gefühl zu bestärken, dass jetzt gegen Frankreich gehandelt werden müsse.

Der Autor dieses Liedes hält sich mit Stilmittel eher bedeckt. Es werden zwar eine ganze Reihe von Apostrophen3 (z.B. Z.1: „Empor mein Volk! Das Schwert zur Hand!“), Personifizierungen4 Frankreichs (z.B. Z.10: „Da bricht den Hader er vom Zaun“), Euphemismen5 (z.B. Z.8f: „Dein Haus in Frieden auszubauu’n Stand all dein Sinn und Wollen“), Hyperbeln6 (z.B. Z.38f: „Wir stürmen nach, ob tausendfach Des Todes Pforten klaffen.“), Paradoxon7 (Z.40: „Und fallen wir: flieg Adler, flieg!“) und Metaphern8 (z.B. Z.31: „Wie Sturmwind schwellt dein Flügelpaar“) benutzt, doch bleiben diese immer in einem sehr leicht verständlich und stets in dem Kontext, den Zuhörer in einen Krieg mit den Franzosen aufzustacheln. Das ganze Gedicht hat daher auch einen sehr appellativen, progressiven9 Charakter, dies wird vermehrt durch Imperativsätze bzw. Imperativzeichen („!“) kenntlich gemacht und der sich ständig wiederholenden, eingängigen Phrase „Vorwärts!“. Das Lied ist durchaus als Propaganda oder gar „Staatslyrik“ anzusehen. Erhärtet wird dieser Verdacht dadurch, dass Emanuel Geibel vom preußischen König eine lebenslange Pension zugesprochen bekam und die Verbundenheit zwischen Geibel und Preußen daher sehr eng gewesen sein muss. Die verblüffende sprachliche und stilistische Einfachheit dieses Liedes lässt sich folgendermaßen erklären: Es sollte auch vom „einfachen“ deutschen Landsmann zu verstehen sein. Da dieses Gedicht eigentlich als Lied geschrieben wurde, bedeutet dies zudem, dass es natürlich auch gesungen wurde, was wiederum bedeutet, dass es sich für Mundpropaganda besser anbietet, als ein einfaches Gedicht. Darüber hinaus bedeutet dies, dass auch die nicht-alphabetisierte Bevölkerung dieses Lied verstehen kann. Interessant wäre vielleicht noch, ob es sich bei der dazugehörigen Melodie um einen Marsch oder ähnliches handelt, mit dem der Inhalt nochmals zusätzlich unterstützt wird. Das Lied ist durch seine Einfachheit leicht verständlich, eingängig, prägnant und sehr metaphorischer.

Ganz anders zu dem von Emanuel Geibel propagierten „Hurrapatriotismus“ ist die Intention der expressionistischen Lyriker. Die Expressionisten zogen sich viel mehr zurück, warnten und mahnten vor dem Krieg. Ihre Zurückgezogenheit äußerst sich in einer manchmal sehr eigentümlichen und verschlossenen Sprache. Die Werke von Georg Trakl (siehe z.B. „Grodek [7]“) sind bis zur Unverständlichkeit chiffriert und wurden bis heute vielfach nicht richtig interpretiert. Diese Isolation vom „normalen“ Bürger zeigt, dass die Expressionisten sich nicht von allen Menschen verstanden werden wollten und mussten, sondern häufig nur einem esoterischen10 Zirkel, einer Gruppe von Auserwählten zugänglich war.
Was die Ansicht über den Krieg anbelangt, waren die Expressionisten in ihrem Naturell durchweg anders, als ein Emanuel Geibel. Sie waren „Freidenker“, wollten eine andere, neue Gesellschaft und einen neuen Menschen schaffen (siehe Friedrichs Nietzsches [8] Übermensch [9], von dessen Idee die Expressionisten sehr angetan waren). Der besagte „Hurrapatriotismus“ passt hierzu in keinster Weise. Emanuel Geibel will ein „Wir“-Gefühl schaffen, will die Menschen instrumentalisieren. Die Menschen sollen möglichst uniform11 sein und sich kritiklos in den Krieg stürzen. Individualität und kritischer Geist in Geibels „Kriegslied“ fehl am Platz. Die Expressionisten fördern dies aber, sie sind selber Individualisten. Des weiteren bringt Geibel in seinem Lied immer wieder Gott in den Zusammenhang. Gott steht auf der Seite der Deutschen, während die Franzosen frevelhaft sind. Die Expressionisten nehmen von dem Gedanken eines Gottes und übernatürlichen Dingen eher Abstand. Auch hier ist wieder der Übermensch zu erwähnen. Der Übermensch schafft sich seine eigenen Werte, er entsteht aus sich selbst heraus, aus dem normalen Menschen und verneint transzendente12 Werte wie Gott und Religion.

Abschließend möchte ich zum Vergleich zum Expressionismus noch ein Tagebuchzitat von dem Expressionisten Georg Heym (siehe z.B. „Der Krieg [10]“, „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen [11]“ oder „Die Nacht“) hinzufügen, der augenscheinlich im diametralen13 Gegensatz zu meiner obigen Aussage, dass die Expressionisten den Krieg ablehnen, steht:

„Ach, es ist furchtbar. […] Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt. […] Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“


Ergänzend möchte ich dazu sagen, dass Heym an dieser Stelle keine grundsätzlich pro-kriegerische Haltung einnimmt. Viel mehr hat dieses Zitat den Hintergrund, dass Heym, ebenso wie viele andere Expressionisten, an den Übermensch glaubten und einen Umsturz und Neuanfang der für sie festgefahrenen und maroden Gesellschaft herbeisehnten. Der Krieg stellt für Heym das letzte Mittel und eine Chance dar, einen Nährboden für diesen Umbruch und Neuanfang zu schaffen. Heym ist daher kein Kriegsfanatiker, sondern für ihn stellt der Krieg ein Mittel zum Zweck höherer Ziele dar.

Epochal ist das Lied von Emanuel Geibel in der Spätromantik (1815-1830) anzusiedeln. Wesentliche Merkmale der Spätromantik sind die Hinwendung zum Katholizismus [12] und der Unterordnung unter Ganzheiten wie Kirche, Religion, Volk und Staat. Zumindestens letzteres ist in diesem Gedicht sehr gut zu erkennen.
Weitere Aspekte der ganz allgemeinen Romantik (1798-1835), die sich hier widerspiegeln, sind:
-lyrisch poesievoll und verklärt
-Kritik an Vernunft und Wissenschaft, Gegenströmung zur Aufklärung
-gefühlsbetont (Subjektivität, lyrisches Ich im Mittelpunkt)
-Einheit von Natur, Mensch und Gott; transzendente Ausrichtung


Anmerkungen:
1 Person, Nation oder Staat, von dem eine streitsüchtige, angriffslustige, aggressive Handlung ausgeht.
2 aus der Vor-, Frühzeit stammend, ihr angehörend
3 Apostrophe (Stilmittel): Feierliche oder betonte Anrede; Anruf. Beispiel: „Du schönste Wunderblume süßer Frauen!“.
4 Personifikation (Stilmittel): Bei der Personifikation wird ein lebloser oder ein abstrakter Begriff, oder aber auch ein Tier, „vermenschlicht“. Personifikationen treten z.B. immer in Fabeln auf (da Tiere wie Menschen handeln). Anderes Beispiel: Der Mond schaut zornig drein; der Mond nimmt hier also charakteristische menschliche Züge an.
5 Euphemismus (Stilmittel): Beschönigung.
6 Hyperbel (Stilmittel): Übertreibung.
7 Paradoxon (Stilmittel): (Schein-)Widerspruch.
8 Metapher (Stilmittel): Bild.
9 voranschreitend, fortschreitend
10 auserwählt, nur Eingeweihten zugänglich
11 einheitlich (im Gegensatz zu individuell)
12 transzendental: übernatürlich; die Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren und Erkennbaren überschreitend.
13 gegenüberliegend, entgegengesetzt



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Emanuel_Geibel
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Franz%C3%B6sischer_Krieg
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Napol%C3%A9on_III._%28Frankreich%29
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Bismarck
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Emser_Depesche
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Winston_Churchill
[7] http://www.antikoerperchen.de/material/18/gedichtinterpretation-georg-trakl-grodek-expressionismus.html
[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbermensch
[10] http://www.antikoerperchen.de/material/15/gedichtinterpretation-georg-heym-der-krieg-expressionismus.html
[11] http://www.antikoerperchen.de/material/21/gedichtinterpretation-georg-heym-die-menschen-stehen-vorwaerts-in-den-strassen-umbra-vitae-expressionismus.html
[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Katholizismus