Gedichtinterpretation: Georg Trakl – An die Verstummten (Expressionismus)

Im folgenden werde ich aufgrund des großen Interesses das Gedicht „An die Verstummten“ von Georg Trakl bearbeiten. Leider sind mir einige Andeutungen und Aussagen des Gedichtes nicht ganz klar. Ich hoffe daher auf Unterstützung von euch Lesern, so dass sich vielleicht eine Art „Kollektivinterpretation“ später ergibt. Ich habe im Internet drei Interpretationen gefunden, die mir aber alle nicht ganz zusagen und nicht durchweg schlüssig erscheinen. Hier die Interpretationen:
Interpretation 1 [1] (Leider wenig brauchbar, nur zur Inspiration)
Interpretation 2 [2]
Interpretation 3 [3]


Georg Trakl [4] 1887-1914

1 O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
2 An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
3 Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
4 Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
5 O, das versunkene Läuten der Abendglocken.

6 Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
7 Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne der Besessenen,
8 Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
9 O, das gräßliche Lachen des Golds.

10 Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,
11 Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.


Analyse und Interpretation:

Das Gedicht „An die Verstummten“ (1913) von Georg Trakl besteht aus drei Strophen mit abnehmender Verszahl. Die erste Strophe besteht aus 5, die zwei aus 4 und die letzte aus 2 Versen. Das Metrum ist ein Alexandriner (sechshebiger Jambus mit Zäsur1 in der Mitte) mit 9 weiblichen (klingenden) Kadenzen2 und 2 männlichen (stumpfen) Kadenzen. Es gibt kein Reimschema.

Trakl formuliert in dem Titel seines Werkes eine Ansprache an einen direkten Adressaten, nämlich den „Verstummten“. Wer oder was die Verstummten sein sollen, bleibt mir allerdings auch am Ende des Gedichtes schleierhaft. Das Gedicht befasst sich thematisch auf der im Expressionismus häufig eingegangenen Großstadtproblematik. Das Gedicht beginnt mit einer Interjektion3 („O“), welche nochmals in Vers 5 und 9 wiederholt wird. Der Sprecher legt eine sehr wehklagende Stimmung an den Tag, denn er empfindet die Großstadt als „wahnsinnig“ (Z.1). Besonders zu nächtlicher Stunde scheint dem Sprecher dieser Wahnsinn deutlich zu werden.
In seinen Schilderung beschreibt der Sprecher, dass er „verkrüppelte Bäume“ sieht, die an den „schwarze Mauern starren“ (Z.2). Als wesentlichstes Augenmerk richtet der Sprecher die Aufmerksamkeit des Lesers hier auf die Umweltschäden und die Verschmutzung. Die schwarzen Mauern könnten dem Sprecher selbstverständlich auch einfach durch die nächtliche Dunkelheit schwarz erscheinen, wahrscheinlich ist aber, dass die Mauerschwärze durch den Ruß der Industrieanlagen oder der Kohleverbrennung gefärbt sind. Die verkrüppelten Bäume bestätigen diese Vermutung, da der sogenannte „Krüppelwuchs“ oder „Drehwuchs“ bei Bäumen durch Umweltschäden, Lichtmangel oder zu dichter Bepflanzung auftritt. Durch dass „starren“ werden die Bäume auch personifiziert4, man könnte also auch durch den Zustand der Bäume das seelische und körperliche Befinden der Stadtbewohner herleiten: Sie leiden physisch unter der Verschmutzung und sind so eng beieinander gedrängt, dass sie sich nicht entfalten können.
Im dritten Vers wird sehr verschlüsselt von einer „silbernen Maske“ geschrieben, aus welcher „Der Geist des Bösen schaut“. Maske impliziert5 zunächst einmal was fassadenhaftes, oberflächliches oder gar falsches und hinterlistiges. Silbern können allenfalls die reflektierenden Scheiben der Häuser auf den Sprecher wirken. Welche Art von „bösen Geistern“ durch die Scheiben gucken mögen, ist mir unklar. Eine Vermutung wäre, dass es sich um die Häuser von machtvollen Personen handelt, welche im Besitz von Produktionskräften sind (Industrielle) oder die Stadt in irgendeiner Weise leiten.
Der vierte Vers ist nicht weniger von Trakl chiffriert6 worden. Das Licht der Straßenlaternen, Häuser usw. vertreibt die Dunkelheit. Eine „Geißel“ ist gemeinhin eine Art Peitsche mit Riemen oder Schnüren am Ende. „Magnetisch“ wird das Strom für das Licht erzeugt, magnetisch könnte allerdings auch das Licht selbst für die Menschen sein; Menschen fühlen sich von den Lichtquellen magnetisch angezogen und scheuen die Dunkelheit. Als Stilmittel wird bei „steinerne Nacht“ eine Synästhesie7 verwendet.
Im fünften Vers hört der Beobachter das Läuten der Kirchenglocken, allerdings nur „versunken“. In was das Geläute der Abendglocken versinkt, ist relativ unklar. Die Glocken werden wahrscheinlich von einem anderen Geräusch übertönt und sind daher kaum noch zu hören, vielleicht eine Anspielung auf den Großstadtlärm.

Zu Beginn der zweiten Strophe schildert der Beobachter eine Prostituierte, die in dem kalten verregneten Wetter ein „totes Kindlein gebärt“ (Kindlein: Diminutivform8). Die Prostituierte steht symbolisch für die Käuflichkeit, Schuld und Zerfall moralischer Werte, sie ist jedoch auch ein „Verlierer“ der Gesellschaft und veranschaulicht die Armut in der Großstadt und die großen Disparitäten9 zu der reichen Bevölkerungsschicht. Dass die Prostituierte offensichtlich keine Unterkunft oder Geborgenheit besitzt, geht sicherlich daraus hervor, dass sie sich genötigt fühlt ihr Kind bei diesem unwirklichen Wetter auf offener Straße austragen zu müssen. An diesem Vers wird sehr deutlich die Anonymität in der Großstadt und auch die fehlende Bereitwilligkeit, sich gegenseitig zu helfen oder eine Solidaritätsgefühl10 zu entwickeln; auch wenn es um Menschenleben geht. Selbst der Sprecher bleibt hier passiv und gefühlskalt, da er nicht eingreift um der Prostituierten zu helfen.
Gott bestraft die „Besessenen“ der Stadt, indem er zornig gegen die Stirn derer peitscht (Z.7). Die Peitsche des Gottes – wenn man so will – stellen die „Purpurne Seuche“ und „Hunger“ dar (Z.8). Mit „Hunger“ ist mit ziemlicher Sicherheit die real existierende Armut und der Nahrungsmangel zu dieser Zeit gemeint. Die Städte wuchsen sehr schnell und die Agrarwirtschaft war noch nicht auf die Massenproduktion ausgelegt. Eine „Purpurne Seuche“, „Purpurseuche“ oder ähnliches gibt es nicht. Damit könnte „irgendeine“ Seuche wie Cholera gemeint sein, es gibt allerdings keine Seuche, die charakteristisch mit dem Adjektiv „purpur“ in Verbindung zu bringen wäre. Charakteristisch für die Farbe purpur ist allerdings, dass sie offiziell die Farbe von Kaiser, Königen und Kardinalen war. Purpur ist ein Farbstoff, der heutzutage synthetisch hergestellt werden kann, damals allerdings wurde er sehr aufwendig und kostspielig aus der am Mittelmeer beiheimateten Purpurschnecke gewonnen und war daher auch nur sehr reichen und mächtigen Zeitgenossen erschwinglich. Die „Purpurne Seuche“ könnte als eine dezent-freche Anspielung auf die katholische Kirche und dem Kaiser sein. Die „grünen Augen“, die hier von Gott „gepeitscht“ werden, zerbrechen – Die Bedeutung diese Bildes ist wieder recht unklar. Die „grünen Augen“ könnten metonymisch11 für die Hoffnung der Stadtbevölkerung stehen.
Im 9.Vers jammert der Sprecher über das „grässliche Lachen“ des „Golds“ (Personifikation). Die Bedeutung dieses Verses scheint ungewohnt eindeutig zu sein: Der Sprecher beschreibt hier die Bösartigkeit des Materialismus und -durch die Personifikation- auch die der Reichen selbst.

Die letzte zweiversige Strophe gibt wiederum Rätsel auf. In „dunkler Höhle“ „blutet“ die „stummere Menschheit“ (Z.10). „Bluten“ zielt auf eine gewisse Verletzung, ein Leiden oder den schmerzlichen Verlust von etwas hin. Das Adjektiv „stummere“ ist der Komparativ12 zu „stumm“; da es von „stumm“ allerdings keine (sinnvolle) Steigerung gibt, ist die Anwendung der Steigerungsform hier eigentlich unsinnig. Dadurch dass diese Menschen bereits „stille bluten“, ist die Erwähnung, dass diese auch noch „stumm“ seien zudem „doppelt-gemoppelt“; man spricht hier auch von einer „Tautologie13“. Die in Vers 10 erwähnte Menschheit fügt im 11. und letzten Vers „aus harten Metallen das erlösende Haupt“. Das Gedicht findet in einer Erlösung und einem Neuanfang seinen Höhepunkt und Abschluss. Wie diese Erlösung konkret aussieht, ist mir allerdings nicht klar. Mit einem „Haupt“ ist meist der Kopf gemeint, es kann sich allerdings auch um einen Führer oder eine leitende Person handeln. Der bestimmte Artikel „das Haupt“ weist darauf hin, dass es sich hier um ein ganz bestimmtes Haupt handelt. Bleibt also zu erwähnen, dass es hier falsch wäre, eine Interpretation über den Plural („Häupter“) herzuleiten. Trakl arbeitet hier insgesamt sehr viel mit Chiffren, die es für den Leser sehr schwer machen, die genaue Bedeutung seines Werkes zu erschließen; Trakls Gedicht grenzt an die hermetische Lyrik14 an, auch dort ist die Chiffre ein zentrales Werkzeug.

Es sind alle Leser freundlichst dazu aufgerufen, ihre eigenen Interpretationen oder Interpretationsfragmente zu ergänzen. Dazu kann einfach die unten stehende Kommentarseite benutzt werden.


Anmerkungen:
1 Einschnitt. (Hier: Sprechpause)
2 Männliche (stumpfe) Reime (einsilbig): Not/Tod, Mut/Gut; Weibliche (klingende) Reime (zweisilbig mit Betonung auf der vorletzten Silbe): singen/klingen, sagen/fragen.
3 Ausruf, Gefühlsausdruck. Beispiel: „Ach“, „Aua“, „Huch“, „Oh“.
4 Personifikation (Stilmittel): Bei der Personifikation wird ein lebloser oder ein abstrakter Begriff, oder aber auch ein Tier, „vermenschlicht“. Personifikationen treten z.B. immer in Fabeln auf (da Tiere wie Menschen handeln). Anderes Beispiel: Der Mond schaut zornig drein; der Mond nimmt hier also charakteristische menschliche Züge an.
5 schließt ein.
6 Chiffre: Verschlüsselung.
7 Synästhesie (Stilmittel): Verbindung unterschiedlicher Sinneseindrücke. Beispiel: „Sehe mit fühlendem Auge“.
8 Der Diminutiv stellt die sogenannte „Verniedlichungsform“ dar. Häufig werden im Hochdeutschen Substantive mit dem Anhängsel „lein“ oder „chen“ verniedlicht. Beispiele: Katze->Kätzchen, Maus->Mäuslein.
9 Ungleichheit, Verschiedenheit.
10 Zusammengehörigkeitsgefühl.
11 Metonymie (Stilmittel): Ersetzung eines gebräuchlichen Wortes durch ein anderes, das zu ihm in unmittelbarer Beziehung steht: z.B. Autor für Werk, Gefäß für Inhalt, Ort für Person.
12 Der Komparativ stellt die erste Steigerungsform dar. Die zweite Steigerungsform ist der Superlativ. Beispiel: kalt, kälter (Komparativ), am kältesten (Superlativ).
13 Tautologie kommt aus dem Griechischen und heißt übersetzt „Dasselbe-sagen“. Bei einer Tautologie werden zwei oder mehr bedeutungsgleiche Wörter benutzt. Beispiel: „alter Greiß“, „weißer Schimmel“, „voll und ganz“, „immer und ewig“.
14 Die hermetische Lyrik ist für den Leser nur bruchstückhaft oder gar nicht zu verstehen, da der Autor sehr viele Chiffren und Bilder benutzt, die meist nur in seinem eigenen Bewusstsein entschlüsselt werden können.



Weblinks:
[1] http://www.antikoerperchen.de/dateien/trakl-an_die_verstummten/georg_trakl-an_die_verstummten1.php
[2] http://www.antikoerperchen.de/dateien/trakl-an_die_verstummten/georg_trakl-an_die_verstummten2.php
[3] http://www.antikoerperchen.de/dateien/trakl-an_die_verstummten/georg_trakl-an_die_verstummten3.php
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Trakl