Gedichtinterpretation: Gottfried Benn – Schöne Jugend (Expressionismus)

Gottfried Benn [1] 1886-1956

Analyse und Interpretation:

Das Gedicht „Schöne Jugend“ (1912) von Gottfried Benn entstammt einer Gedichtsammlung namens „Morgue“ (übersetzt: Leichenschauhaus). Benn thematisiert in seinem Werk den Tod. Die äußere Form ist – entgegen vieler anderer expressionistischen Gedichte – sehr ungebunden: Es gibt keine durchgängige Metrik1 und kein bzw. kein regelmäßiges Reimschema. Typischerweise wird in expressionistischer Lyrik häufig versucht, den Inhalt in ein starre äußere Form zu pressen. Damit wird der Inhalt sozusagen „gebändigt“. Auf den Leser hingegen wirkt dieser Schreibstil wie ein Katalysator2, der die Wirkung verstärkt; der meist turbulente Inhalt von expressionistischen Gedichten steht dann nämlich plötzlich konträr der starren Form gegenüber.
Noch auffällig an Benns Gedicht ist, dass bei Enjambements3 (Z.1, Z.4, Z.8f) der Anfang des umgebrochenen Verses mit einem kleinen Buchstaben beginnt. Beobachtet man andere Gedichte bekannter expressionistischer Lyriker, dann sieht man z.B. bei Heym und Trakl, dass hier jeder Vers mit einem Großbuchstaben beginnt. Die verhältnismäßig freie Form von Benns „Schöne Jugend“ kann fast schon als „modern“ bezeichnet werden; der Ausbruch aus „Gängelungen“ wie Reimschema und Versmaß ist besonders bei moderner Lyrik zu sehen.

Benn wurde bei seinem Gedicht „Schöne“ Jugend wesentlich von Georg Heyms „Ophelia I“ (1910) inspiriert. In „Ophelia I“ wird der Tod eindringlichst über die Beschreibung eine Wasserleiche und Wasserratten geschildet. Beide Motive sind auch wesentliche Elemente von Benns „Schöne Jugend“.

Bei Benns Schilderung über die Wasserleiche ist zu sehen, dass der Sprecher auf recht wissenschaftlich-analytische Weise vorgeht. Die Leiche wird von außen nach innen beschrieben und geöffnet, wie es bei Obduktionen der Fall ist. Zunächst einmal wird geschildert, dass der Mund der jungen Verstorbenen angeknabbert aussieht (Z.1f). Danach wird der Brustkorb „aufgebrochen“ (Z.3) und die „löchrige“ Speiseröhre beobachtet. Der Höhepunkt der Leichenschau dürfte aber sicherlich die Entdeckung eines Rattennestes sein, welches sich von den inneren Organen und dem „kalten Blut“ des Mädchens ernährte (Z.5ff).

Jetzt können wir auch eine direkte Verbindung zum Titel des Gedichts ziehen. Mit „Schöne Jugend“ ist ganz offensichtlich nicht die Jugend des ertrunkenen(?) Mädchens gemeint, sondern die der Ratten. Auf den ersten Blick ist die Gleichstellung, die dadurch erreicht wird, von Mensch und Tier für viele zunächst befremdlich. Darüber hinaus werden die Ratten in Vers 6 auch noch personifiziert4 („Ein kleines Schwesterchen lag tot.“). Auf die Persönlichkeit der Leiche wird überhaupt nicht eingegangen. Der Sprecher bleibt distanziert und unpersönlich gegenüber seinem „Sezierobjekt“. In Vers 10 sagt der Sprecher auf ironisch gemeinte Art „schön und schnell kam auch ihr tot“; ebenso wie das Mädchen müssen die Ratten den Wassertod sterben, weil man sie ins Wasser wirft; die Parallelität dieser Schicksale ist auffällig. Der Ich-Sprecher ergötzt sich noch an den Sterbeschreien der Ratten (Z.12: „Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!“).

Der Titel des Gedichts erweist sich also im Nachhinein als „Lesertäuschung“. Benn baut mit „Schöne Jugend“ eine völlig falsche Erwartungshaltung an den Leser auf. Durch die Diskrepanz5 zwischen Inhalt und Titel kann Benn jedoch die Wirkung seines Werkes vervielfachen.

Gottfried Benn wurde von seinem Freunden auch als „Der Medizyniker“ bezeichnet. Dass Benn ein Zyniker und Mediziner zugleich war, lässt sich hier zweifellos ablesen. Als Mediziner hatte Benn auch praktische Erfahrungen mit Leichen machen müssen. Seine Routine und Abgestumpftheit mit dem Thema Tod und seiner zynischen Art, erkennt man an dem für uns gefühllosem, respektlosem und entwürdigendem Umgang mit der Leiche. Es drängt sich für den Leser der Verdacht auf, dass der Ich-Sprecher in dem Gedicht „Schöne Jugend“ einen gewissen Hang zur Morbidität6 und Sadismus hatten. Der Sprecher schildert seine Beschreibungen in einem Zustand von Abscheu und Ekel, aber auf der anderen Seite auch einer gewissen Faszination.

In vielen Gedichten sind Rückschlüsse von dem Charakter des Ich-Sprechers auf den Gedichtautoren sehr wagemutig, in „Schöne Jugend“ würde ich allerdings Benn fast schon mit dem Sprecher gleichsetzen.

Die Wasserleichenproblematik, die häufiger im Expressionismus auftaucht und um die sich auch eine ganze Wassersymbolik und Wasserleichenpoesie rankt, wurde hauptsächlich durch die Figur „Ophelia“ aus Shakespeares [2] Bühnenstück „Hamlet [3]“ losgetreten. Nachdem der Geliebte von Ophelia (Hamlet) ihren Vater ermordet, wird Ophelia wahnsinnig und ertränkt sich im Wasser. Auch heute noch wählen viele Menschen bei Selbstmord den Wassertod. Psychologen interpetieren dies so, dass mit dem Tod im Wasser ein „Eins werden“ mit der Natur assoziiert wird. Ob die Wasserleiche in Gottfried Benns „Schöne Jugend“ allerdings nun wirklich den Freitod gewählt hat oder bereits tot war, nachdem sie ins Wasser geworfen wurde, ist nicht klar.

Benn wirft einen pathologischen Blick auf die Wasserleiche. Während in Shakespeares „Hamlet“ noch der Wassertod als poesievoll und friedlich dargestellt wird, schockiert Benn den Leser mit einer durchaus realistischen Sichtweise auf eine Wasserleiche, die den mystischen Schein von Ophelias Tod in Shakespeares Original gänzlich entzaubert. Die expressionistische Reaktion auf den Tod von Shakespeares Ophelia kann daher fast schon als Travestie7 oder Parodie bezeichnet werden.


Anmerkungen:
1 Versmaß.
2 Ein Katalysator verstärkt die Wirkung von etwas.
3 Zeilensprünge. Ein Satz wird hier häufig gegen die Logik des Lesers mittendrin umgebrochen und auf zwei Verse verteilt. Je nach Kontext und Art der Umbrechung kann der Satz damit abgehackt (da man wegen der Unlogik zu Gedanken- und Sprechpausen gezwungen wird) oder auch temporeich wirken.
4 Personifikation (Stilmittel): Bei der Personifikation wird ein lebloser oder ein abstrakter Begriff, oder aber auch ein Tier, „vermenschlicht“. Personifikationen treten z.B. immer in Fabeln auf (da Tiere wie Menschen handeln). Anderes Beispiel: Der Mond schaut zornig drein; der Mond nimmt hier also charakteristische menschliche Züge an.
5 Unterschied.
6 Verfall. Hier ist die Faszination über den Tod gemeint.
7 Satirisch, lächerlich machen. Ernsthafte Dichtung „auf’s Korn nehmen“.


Weitere Analysen

Interpretation von Angelina K. [4]



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Benn
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/William_Shakespeare
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Hamlet
[4] http://lyrik.antikoerperchen.de/gottfried-benn-schoene-jugend,textbearbeitung,72.html